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Verräter im Führerhauptquartier – Sowjet-Spion Rudolf Rößler
Am 1. Juli 1943 setzte Adolf Hitler im Führerhauptquartier bei Rastenburg (Ostpreußen) den Termin für das Unternehmen “Zitadelle” — die Sommeroffensive in der Mitte der Ostfront — auf den 5. Juli fest.
Am 2. Juli 1943 rief Generalleutnant Nikita Chruschtschow in einer Blockhütte bei dem Dorf Sorinskoje Dwory unweit von Kursk die Kommandeure der Woronesch-Front zusammen und verkündete:
“Die Faschisten greifen zwischen dem 3. und dem 5. Juli an. Das ist keine Vermutung … Wir wissen es.”
Am 5. Juli begann, wie von Hitler unter strengster Geheimhaltung befohlen und von Chruschtschow gewusst, im Kursker Bogen das groß angelegte Unternehmen “Zitadelle”. 42 Divisionen mit 3000 Panzern und Sturmgeschützen griffen an.
Die Offensive sollte fünf Monate nach der Kapitulation in Stalingrad eine Wende im Russlandkrieg bringen. Doch das Unternehmen “Zitadelle” scheiterte. Die Rote Armee schlug den deutschen Großangriff ab. Am 17. Juli 1943 stellte Hitler die Offensive ein.
Oberst im Generalstab Hermann Teske, damals “General des Transportwesens Heeresgruppe Mitte”, mutmaßte” dass die Sowjets von dem deutschen Schlacht-Plan schon “frühzeitig Kenntnis gehabt haben. Denn beide Aufmarschstrecken waren ab Mitte März das Ziel heftiger Störangriffe”.
Die Ankündigung des Termins der Kursk-Offensive war nur eine von Tausenden Nachrichten, die während des Krieges aus deutschen Stäben nach Moskau gelangten.
Eine geheime rote Armee hielt hinter der deutschen Front viele Stützpunkte besetzt — im Oberkommando der Wehrmacht wie in Bataillons-Gefechtsständen” in Villen wie in Dachkammern, in Bürgerstuben wie in Gartenlauben, dicht hinter den deutschen Linien wie tief in der Etappe.
Diese Armee wurde nirgends gesehen und war doch, so schien es, fast überall gegenwärtig — seit jenem 22. Juni 1941, als Hitlers Truppen in die Sowjet-Union eingefallen waren und der sowjetische Geheimdienst-Chef Fjodor Kusnezow (Deckname: “Direktor”) seine Geisterarmee mobilisiert hatte. Der “Direktor” damals an alle Agenten:
“Die faschistischen Horden haben das Vaterland der Werktätigen überfallen. Der Augenblick ist gekommen, alles in eurer Macht Stehende in diesem Ringen auf Leben und Tod zu tun.”
Geführt wurde das Agenten-Heer von Offizieren der Roten Armee, die in der Heimat Uniform und im Hinterland des Feindes Zivil trugen. Die wertvollsten Mitarbeiter der Rotarmisten aber waren deutsche Offiziere.
Sie berichteten über Operationspläne und über Truppenverschiebungen, über die Volksstimmung, über Generalsintrigen und über Geheimwaffen. Im Oberkommando der Wehrmacht saß ein Sowjetagent, der unter dem Decknamen “Werther” arbeitete. Aus dem Oberkommando des Heeres berichtete “Teddy”, aus dem Allgemeinen Heeresamt “Olga”, aus dem Reichsluftfahrtministerium “Stefan”, aus dem Heereswaffenamt “Bill”, aus dem Auswärtigen Amt “Anna”.
“Von Bill” kam am 1. September 1943 die Nachricht:
“Ab 1. Juli erhielten insgesamt 6 Panzer-Regimenter Panther-Panzer. Bis 15. Juli Panther nirgends eingesetzt. Hergestellt bisher höchstens 240 Panther-Panzer.”
“Von Olga” wurde am 7. Oktober 1943 mitgeteilt:
“Seit kurzem sind Hitler und Führerhauptquartier in Rowno.”
“Von Werther” erfuhren die Sowjets beispielsweise am 14. Juli 1943:
“Zwischen 1. Juni 1942 und 1. März 1943 über 170 000 Offiziere und Soldaten deutscher Panzerwaffe gefallen, verwundet, vermisst, erkrankt; das sind 70 Prozent des Bestandes der Panzer-Divisionen im Juni 1942. Die Organisation des Ersatzsystems rechnete aber mit Höchstverlust von 80 000 bis 90 000 Mann.”
Das war eine “Werther-Meldung” wie hundert andere, an einem Tag wie jeder andere; “Werther” lieferte fast täglich.
Generaloberst Franz Halder, bis Herbst 1942 Hitlers Generalstabschef:
“Nahezu — alle deutschen Angriffshandlungen wurden unmittelbar nach ihrer Planung im Oberkommando der Wehrmacht, noch ehe sie auf meinem Schreibtisch landeten, dem Feinde durch Verrat eines Angehörigen des OKW bekannt. Diese Quelle zu verstopfen ist während des ganzen Krieges nicht gelungen.”
Und über das gesamte Spionage-Netz der Sowjets schrieb der Sachverständige Allen W. Dulles, von 1942 bis 1945 in der Schweiz Leiter des amerikanischen Nachrichtendienstes “Office of Strategic Services” (OSS), nach dem Kriege Chef des US-Geheimdienstes CIA:
“Nie in der Geschichte der Kriegführung hat die Spionage eine so “entscheidende Rolle gespielt wie für die Sowjet-Union in den Jahren 1941 bis 1944.
In der Tat: Der rote Apparat funktionierte vorzüglich. Die Zentrale war in Moskau, Außenstationen gab es in vielen deutschen Kommandostellen. Doch zwischen Moskau und den Agenten lag eine Schaltstation weit hinter der Front tief im Hinterland und doch vor dem Zugriff der Deutschen geschützt: in der Schweiz.
Von “Werther” wie von “Olga”, von “Teddy” wie von “Anna” und etwa 200 weiteren Agenten liefen die Fäden zu “Lucie” in Luzern und “Dora” in Genf. Dort wurden die Nachrichten aus dem Deutschen Reich und seinen Stäben gesammelt. “Lucie” und “Dora” wussten en gros und en detail mehr über die deutschen Armeen als irgendein einzelner deutscher General.
Das Spionage-Zentrum in der Schweiz mit seinen Außenstationen hatte für die Sowjets eine größere Bedeutung als ihr berühmtester Spion, Richard Sorge in Tokio, und als die “Rote Kapelle” — jene Gruppe von Hitlergegnern aller Schattierungen, deren Kern aus roten Agenten bestand.
Sorge lieferte als Einzelgänger sporadisch Informationen, während via Schweiz ständig detaillierte Berichte nach Moskau gegeben wurden.
Mitglieder der “Roten Kapelle” saßen zwar in wichtigen Dienststellen — ihr Chef Harro Schulze-Boysen beispielsweise im Luftfahrtministerium. Doch die von der Schweiz aus ferngesteuerten Agenten waren besser — nahezu systematisch — über die Zentren der deutschen Wehrmacht verteilt.
Auf die “Rote Kapelle” singen Militärs und Poeten der Sowjet-Union schon seit 20 Jahren Hymnen. Seit zwei Jahren feiern die Roten auch den Deutschen Sorge als Sowjet-Helden. Doch über die Arbeit ihrer Agenten in der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges schweigen Russen und Schweizer sich aus.
Aber nicht nur wegen dieser Nachrichtensperre an den Schweizer Seen wie an der Moskwa sind die meisten Berichte über dieses größte Spionagenetz des letzten Krieges Mischungen aus viel Dichtung und wenig Wahrheit.
Ex-Spione und Illustrierten-Autoren, Abwehr-Männer und politische Publizisten vermengen die wenigen ihnen bekannten Details mit zahlreichen Legenden, glaubwürdigen Kombinationen und haltlosen Vermutungen.
So unterschiedlich wie im Kriege die Motive der Agenten — Geld, roter Ruhm oder eine höhere deutsche Ehre als die Treue zum Führer — sind auch die Zwecke der Darstellungen, die sich seit Jahren häufen.
Die Franzosen Pierre Accoce und Pierre Quet etwa ergehen sich in einem Buch (Originaltitel: “Der Krieg wurde in der Schweiz gewonnen”) in Mutmaßungen darüber, welche deutschen Generale den Sowjets wichtige Stabs-Geheimnisse verraten haben mögen. Der Zeithistoriker Dr. Wilhelm Ritter von Schramm (München) hingegen bemühte sich in der Züricher “Weitwoche” und im Bonner “Parlament”, die deutsche Generalität vom Odium des Verrats zu befreien.
Und der rechtsgerichtete Publizist Winfried Martini verurteilte in einer elfteiligen Serie der Hamburger “Welt” den Landesverrat uneingeschränkt, denn — so Martini:
“Im Kriege … als es um Leben und Tod ging, waren die Deutschen miteinander schicksalhaft auf das engste verbunden, gleichgültig, ob man den Krieg oder das Regime billigte oder nicht. Hier konnte Landesverrat nichts Positives bewirken.”
Dennoch zeichnen sich neuerdings deutlicher als je zuvor die Umrisse der sowjetischen Agenten-Organisation ab. Aus dem Nebel tauchen Gestalten auf, wie sie in Drehbüchern stehen könnten: eine Geheimfunkerin namens Marguerite Bolli, die — für Agenten-Amouren sorgte, ein Spion “Teddy”, der auf Bar-Kasse drängte und seine heiße Ware so lange zurückhielt, bis der in Schweizer Franken umgewechselte Rubel rollte.
Es gibt Figuren in dieser Kriminalgeschichte, die niemand in dieser Umgebung vermutet — wie den späteren Bundesminister Ernst Lemmer, der während des Krieges in Moskau als Gewährsmann galt. Und es gibt — eine von Mythen und Legenden umwucherte Figur wie den Rittmeister Dr. Wilhelm Scheidt.
Scheidt ist der meistgenannte Offizier in den jüngsten Berichten über den roten Agentenring. Ritter von Schramm versucht, den 1954 gestorbenen und von Thomas Dehler, Franz-Josef Strauß und anderen Bonner Größen betrauerten Rittmeister zum größten Verräter des Zweiten Weltkrieges zu machen. Und Martini pflichtete ihm bei:
“In der Tat weisen bisher auf Keinen so viele Indizien hin, wie auf ihn.”
Doch bis heute blieb ungeklärt, ob Scheidt überhaupt für die Sowjets gearbeitet hat. Fest steht hingegen: Zentrale Figuren in dem Sowjet-Netz ware
Alexander Radolfi, genannt Rado, Deckname: “Dora”, Ehemann einer deutschen blonden Roten, Ungar von Geburt, Kommunist aus Überzeugung, Oberst der Roten Armee von Rang und im bürgerlichen Leben heute Universitäts-Professor für Geographie in Budapest;
der Deutsche Rudolf Rößler, Sohn eines bayrischen Staatsbeamten und Freund Thomas Manns, konservativer Schöngeist und unter dem Decknamen “Lucie” roter Spion. — Der sechssprachige Ungar Rado, heute 67, begann seine Tätigkeit für die Kommunisten nach dem Ersten Weltkrieg. Als in Ungarn-1919 die Kommunisten Bela Khun und Matthias Rákosi für fünf Monate die Macht eroberten, gehörte der damals — 20jährige zu ihrem Stab.
In den zwanziger Jahren lernte er das Land kennen, gegen das er später spionierte: Er studierte in Berlin Geographie und erwarb sich soviel Fach-Ruhm, daß ihn die “Royal Geographical Society of Great Britain” zum Korrespondierenden Mitglied wählte. Als Hitler die Macht übernahm, siedelte er von Berlin nach Paris über. 1936 bezog er Posten im Lande der Eidgenossen.
In der Genfer Rue de Lausanne 113 gründete er die Firma “Geneva Geopress”, die in- und ausländische Zeitungen mit militärischen Kartenskizzen belieferte. Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges begann das Geschäft zu florieren.
Als Hitlers Wehrmacht 1941 in Rußland einfiel, hatte der kleine und dickleibige, ein wenig cholerische Rado bereits drei illegale Sender von beträchtlicher Stärke eingerichtet, die als “Rote Drei” in die Spionage-Geschichte eingegangen sind.
Einen Sender baute der Genfer Radiohändler Edmond Hamel (Deckname: “Eduard”) hinter einem Wandbrett in seiner Wohnung, Route de Florissant 192 ein. Beim Funken und Verschlüsseln assistierte Ehefrau Olga (Deckname: “Maud”). Rado zahlte dem Ehepaar monatlich 1000 Franken.
Das zweite Kurzwellengerät verbarg die ebenfalls in Genf — Rue Henry Mussard 8 — ansässige Kellnerin und Rado-Geliebte Marguerite Bolli (Deckname: “Rosa”), Jahrgang 1920, in einem Plattenspieler. Sie verdiente zuletzt 800 Franken.
Den dritten Apparat betrieb in Lausanne, Chemin de Longeraie 2, der englische ehemalige Spanienkämpfer Alexander Foote (Deckname: “Jim”). Er versteckte seinen Sender in einer Schreibmaschine. Moskau machte den verdienten Agenten zum Hauptmann der Roten Armee und ließ ihm zuletzt 1300 Franken auszahlen.
Einer der wichtigsten Schweizer Lieferanten für Rados “Rote Drei” war der Journalist Otto Pünter (Deckname: “Pakbo”). Der akkurat gekleidete Sozialdemokrat hatte schon in den zwanziger Jahren einer Agentengruppe angehört, die gegen Italiens Faschisten arbeitete. Als Hitler die Macht ergriff. sammelte er hauptsächlich Nachrichten über Deutschland. Pünter bezog sie von heimlichen Gaullisten im Diplomatischen Korps des Vichy-Regimes, von dem französischen Journalisten Georges Blun (Deckname: “Long”), deutschen Widerständlern und von einer “Lilly vom Vatikan”, deren Identität Pünter nicht preisgibt.
Nachrichtenhändler Pünter — heute Amtsrichter in Bern — tauschte mit dem französischen Widerstand, dem britischen Intelligence Service und den Chinesen Tschiang Kai-scheks aus und gab Meldungen kostenlos an Rados roten Dienst.
Aus Feldkirch am Vorarlberg belieferte den Schweizer Pünter ein früherer Funktionär der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, der die Briefe seines Sohnes — eines Funkers im Oberkommando der Wehrmacht — auf verwertbare Informationen durchsah.
Pünter und Rado trafen sich gelegentlich. Aber seinen Hauptlieferanten Rößler, der allein mehr Informationen sammelte als alle anderen Rado-Mitarbeiter zusammen, bekam der Sowjet-Oberst nie zu Gesicht. Im September 1943 klagte “Dora” Rado in einem Funkspruch an den “Direktor” in Moskau, dass er “keinen direkten Kontakt” zu “Lucie”, also zu Rößler, habe.
Zu den Rößler-Legenden gehören die Berichte über geheime Treffen des Ungarn mit dem Deutschen in schummrigen Cafés ebenso wie die Behauptungen, Rößler sei gebürtiger Tscheche oder sei insgeheim zum Offizier der Roten Armee ernannt worden — wie nach dem Kriege der Schwede Wennerström.
Rößler wirkte wie ein versponnener Literat und nicht wie ein kühl berechnender Agent.
“Es war mir und ist mir heute noch das größte psychologische Phänomen”, meinte von Schramm, der Rößler aus den zwanziger Jahren kannte, “wie dieser Mann zu einem Nachrichtendienst kam … Er war der Typ des deutschen Schwärmers.”
Und der heutige Photohändler Hans Hausmann (St. Gallen), während des Krieges Offizier des Schweizer Nachrichtendienstes, urteilte:
“Rößler war an sich gar nicht der Spionagetyp … Es ist völlig verfehlt, Rößler … mit Sorge … zu vergleichen.”
Übereinstimmend bescheinigten Untergrund-Männer dem kultivierten Schwärmer höchste Effektivität bei seiner Arbeit als Spion. So
Ex-Agentenchef Hausamann:
“Rößler war eine … sehr wichtige Nachrichtenquelle … Rößlers Informationen (trafen) erstaunlich zu.”
Ex-Agent Pünter:
“Rößlers Informationen waren … von einer erstaunlichen Präzision”.
Ex-Agent Foote:
“Rößler hielt in seinen Händen Fäden, die zu den drei Oberkommandos in Deutschland führten … Lucie versorgte Moskau täglich mit dem neuesten Lagebild der deutschen Truppen an der Ostfront.”
In Rößlers Agentenleben gab es keine 007-Blondinen, sondern nur die biedere Ehefrau Olga, die heute in Augsburg lebt. Es gab keine heimlichen Treffs in Wartesälen oder Friedhofsanlagen, sondern eine völlig undramatische Übermittlung von Geheimnissen. Rößler besaß — im Gegensatz zu immer wiederholten Behauptungen — kein Funkgerät. Er konnte weder morsen noch verschlüsseln. Seine Dossiers kritzelte er auf kleine Zettel und gab sie im Klartext weiter.
Rößler war mittelgroß, hielt sich ein wenig gebeugt und lugte durch dicke Brillengläser. Den Hut trug er tief ins Gesicht gedrückt, seine Mäntel waren stets einige Nummern zu groß. Er lebte bescheiden. Kaffee und Zigaretten waren der einzige Luxus, den er sich leistete.
Aufgefallen ist der Sohn eines Augsburger Regierungsdirektors zeit seines Lebens nur Wenigen. 1915 zog der damals 17jährige Rößler als Freiwilliger in den Ersten Weltkrieg. Er kämpfte an der Somme und an der Siegfriedlinie, bei Arras und in Flandern, doch wurde er nicht ein einziges Mal befördert oder dekoriert.
Nach dem Kriege stellte die “Augsburger Allgemeine” Rößler als Redakteur ein. 1923 veröffentlichte er eine Sammlung von Feuilletons über die “Romantik” mit dem Untertitel “Heft gedrängter Übersicht”. Er selbst steuerte einen Fünf-Seiten-Aufsatz. bei. Thema: “Das romantische Erlebnis von Liebe und Tod”.
Rößler verkehrte zu dieser Zeit im Münchner Hause Thomas Manns, der ihn bat, die Erziehung seiner Kinder zu übernehmen. Rößler lehnte ab und wurde 1928 Generalsekretär des Bühnenvolksbundes in Berlin einer Organisation von Theaterbesuchern, die zuletzt einen Jahresumsatz von 13 Millionen Reichsmark auswies. Sie sollte als Gegengewicht zu dem linksgerichteten Volksbühnenbund “christlich-deutschen Volksgeist” pflegen.
Der völkische Rößler hatte unter den Schwarzweißroten viele Freunde. Doch ihre Rechtswendung zum Nationalsozialismus machte er nicht mit. Vielmehr warnte er 1932 im exklusiven “Herren-Club” des Herrenreiters Franz von Papen, in “Stahlhelm” -Versammlungen und konservativen Zirkeln vor Hitler. Er knüpfte Beziehungen zu dem konservativen Schriftsteller und Papen-Sekretär Edgar Jung (“Die Herrschaft der Minderwertigen”) und zu dem Polit-Wissenschaftler Harro Schulze-Boysen, der später die “Rote Kapelle” leitete.
Ein Jahr nach der NS-Machtergreifung emigrierte Rößler auf Anraten seines Freundes, des Schweizer linkskatholischen Journalisten Dr. Xaver Schnieper, In das Land der Eidgenossen und übernahm die Leitung des Luzerner “Vita Nova”-Verlages. Er brachte Werke berühmter Autoren heraus, von denen einige in Deutschland auf der braunen Indexliste standen — wie Paul Claudel, Stanley Baldwin, Nikolai Berdjajew, Karl Löwith Jacques Maritain, Fedor Stepun und Walter Schubart.
Nichts spricht für die Behauptung des früheren Rippentrop-Referenten Dr. Paul Schmidt alias Paul Carell in seinem 1968 erschienenen Buch “Verbrannte Erde”, Rößler- sei schon vor seiner Emigration in die Schweiz von den Sowjets als Agent angeworben werden und habe bereite in Deutschland ein “wichtiges Agentennetz aufgebaut”.
Alles spricht hingegen dafür, daß Rößler sein Doppelleben auch noch nicht in seinen ersten Schweizer Jahren 1934 bis 1939, sondern erst wenige Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begann.
Die Wende im Leben Rößlers, dem 1937 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, brachten zwei — bis heute unbekannte — deutsche Generalstabsoffiziere, die ihn im Sommer 1939 aufsuchten und ihm anvertrauten:
“Ende August wird Hitler Polen überfallen.”
Die Offiziere machten ihn, wie Rößler später seinem Freund Schnieper berichtete, zu ihrem Vertrauten:
“Wir geben dir alle Informationen über militärische Operationen. Wir betrachten dich als unser Gewissen. Tu mit den Informationen, was du willst. Hitler muss den Krieg verlieren.”
Von nun an war Rößler bereit, als Agent gegen Hitler-Deutschland zu arbeiten — freilich zunächst nur für den Schweizer Nachrichtendienst (ND).
Als Rößler sich bei den Eidgenossen verdingte, war dem Deutschen ebenso wie seinen neuen Auftraggebern die Spionage noch ein Buch mit sieben Siegeln.
Bis zum Herbst 1938 betrug der ND-Jahresetat nur 20 000 Schweizer Franken — gerade genug, um einschlägige Artikel der in- und ausländischen Presse auszuschnippeln und zu verwerten.
An der Spitze stand zudem ein Eidgenosse, dem Aufgabe und Arbeitsweise eines Nachrichtendienstes stets fremd und ein wenig anrüchig blieben: Oberstleutnant Roger Masson, später Oberstbrigadier, heute Pensionär in Lausanne.
Routine hatte ihn auf diesen Posten gebracht, den er bis 1945 verwaltete. Nach eidgenössischem Reglement mussten bestimmte Generalstabsoffiziere ein Pflichtjahr als Nachrichten-Chef absolvieren. 1938 war die Reihe an dem untersetzten, vertrauensseligen Masson. Ihn interessierte die Strategie am Kartentisch weit mehr als das zwielichtige Geschäfte mit Geheimdossiers. Masson heute:
“Um die Küche habe ich mich nie gekümmert.”
Um die Spionage-Küche kümmerten sich derweil andere. Halb privat, halb dienstlich tat es der fast zwei Meter große, dürre Hausamann aus St. Gallen. Er bezahlte aus seiner eigenen Tasche Informanten und wurde Agentenboss auf eigene Faust, um nachzuholen was seine eigene Regierung bis dahin versäumt hatte. Hausamann:
“Es war einfach meine Bürgerpflicht, mein Land zu schützen; und das konnte ich im besonderen Maße, wenn ich die Niederlage Hitlers beschleunigte.”
Mit Akribie baute der Zivilist ein privates Spionagenetz auf: das sogenannte “Büro Ha.” (Deckname: “Pilatus”), das bis 1945 rund 30.000 Informationen zusammentrug. Von seiner Villa “Stutz” in Kastanienbaum bei Luzern aus dirigierte er etwa 80 Agenten, die Nachrichten sogar aus der Reichsführung SS besorgten. Und unter ihnen gab es einen einzigen, der zugleich für das “Büro Ha.” und für den offiziellen Schweizer Nachrichtendienst tätig war: Rudolf Rößler.
Wie präzise Hausamanns Privatdetektei arbeitete, wurde spätestens 1941 dem Schweizer Generalstab offenbart: Am 28. März signalisierte Hausamann Hitlers Plan, die Sowjet-Union zu überfallen. Einen Monat später kundschaftete er aus:
“Mit militärischen Operationen der deutschen Wehrmacht ist ab Ende Mai zu rechnen.”
Und am 16. Juni 1941, eine Woche vor dem deutschen Angriff auf Russland, meldete er detailliert die deutschen Truppenstärken.
Nur wenige Monate lang war das “Büro Ha.” dem amtlichen Schweizer Nachrichtendienst unterstellt, der im Übrigen etwa zur selben Zeit, als der Reserve-Major Hausamann seine geheime “Pilatus”-Schar sammelte, einen gegen Deutschland gerichteten Spionageapparat aufbaute: die Abteilung NS 1 (Deckname: “Rigi”). Ihr Chef, Major Dr. Max Waibel, der an der Berliner Kriegsakademie einen Lehrgang für Generalstabsoffiziere absolviert und dabei wichtige Kontakte hergestellt hatte, erinnerte sich später:
“So zog ich denn am 15. November 1939 — es war gerade die erste Verdunkelungsübung — sozusagen unbemerkt im (Luzerner Hotel) Schweizerhof ein und gründete mit einem Offizier und einem Soldaten als Gehilfen die Organisation.”
Der Drei-Mann-Apparat wurde im Laufe des Krieges ebenfalls eine hervorragende Nachrichtentruppe: NS 1 unterhielt die sogenannte Wiking-Linie, die im Führerhauptquartier und in anderen militärischen Kommandostellen und “einigen” Reichsministerien endete.
Unabhängig von den Wikingern, doch ebenfalls erfolgreich, arbeitete ein Dr. J. C. Meyer, der bis Ostern 1940 Korrespondent der “Neuen Zürcher Zeitung” in Berlin war und dann von den Deutschen ausgewiesen wurde. NS-1-Chef Waibel holte ihn zum Nachrichtendienst; Dienstgrad: Wachtmeister, Monatssold: 58 Franken.
Bis Kriegsende füllte Wachtmeister Meyer 4000 Schreibmaschinenseiten mit Nachrichten. So meldete er am 7. Dezember 1940:
“Die deutschen Pläne gehen dahin, Jugoslawien über kurz oder lang zu einer Entscheidung zu drängen.”
Tatsächlich besetzten im April 1941 deutsche Truppen das Land. Von dem Hitler-Plan, die Sowjet-Union zu überfallen, erfuhr Meyer ebenso früh wie der für diese Spionage-Großtat gefeierte Sowjet-Agent Sorge. Und die deutsche Sommeroffensive, die am 28. Juni 1942 begann und im Februar 1943 mit dem Desaster in Stalingrad endete, kündigte er schon am 11. März 1942 an:
“Die Offensive gegen den Kaukasus ist beschlossen.”
Besonders aufmerksam verfolgte der Wirtschaftsjournalist die Entwicklung neuer deutscher Waffen. So meldete er über die V 2 am 18. Juni 1943, 15 Monate bevor das erste Exemplar dieser Geheimwaffe abgeschossen wurde:
“Die Raketengeschosse … sind 10 Meter lang und wiegen beim Abschuss zehn Tonnen. Die “Nutzlast’ beträgt zwei Tonnen Explosivstoff. Es handelt sich beim Treibstoff um auf 50 Atü komprimierte Salpetersäure … Die gegenwärtige Reichweite beträgt rund 200 Kilometer … Bis jetzt sind 10 000 Raketengeschosse in Auftrag gegeben worden.”
Meyer gab auch die Werke an, in denen die V 2 produziert wurde; einziger Fehler war ein B statt eines P:
“Die Herstellungsorte sind Witkowitzer Eisenwerke im Protektorat, die Siemens-Werke in Mülheim/Ruhr … Das Hauptwerk ist Beenemünde.”
In seinen Berichten an NS 1 umschrieb Meyer seine Quellen beispielsweise mit:
“Berliner Großindustrieller, der mit General Keitel und Reichspressechef Dr. Dietrich enge Beziehungen unterhält”.
“Alter Münchner Pg, Mitgliednummer unter 50″.
“Oberregierungsrat einer Dienststelle des Reichsluftfahrtministeriums. Er ist kürzlich SS-Major geworden”.
“Mitglied der SS; (Obergruppenführer) und Direktor der Münchener Metallwerke”.
“General ohne Kommando”
“Botschaftsrat in der Nachrichtenabteilung des Auswärtigen Amtes”.
“Generaldirektor eines großen süddeutschen Industriewerks”.
“Verproviantierungs-Oberst im Oberkommando des Heeres”.
“Bestinformierter deutscher Journalist und Vertrauter Ribbentrops”
Die Namen seiner Informanten gab Meyer bis zu seinem Tod im Juni 1966 nicht preis. Sicher ist jedoch, dass der “bestinformierte deutsche Journalist” der spätere Bundesminister und heutige Berlin-Beauftragte des Bundeskanzlers Ernst Lemmer war.
Wachtmeister Meyer am 19. August 1941 über Lemmer:
“L. zeigte sich sehr ängstlich, und die nachstehenden Ausführungen sind sukzessive bei seinen hiesigen Vertrauensleuten gesammelt worden.”
Doch der Informant wurde nicht nur in Schweizer Geheimdossiers erwähnt. Er wurde auch sogar unter seinem richtigen Namen — als Quelle beim sowjetischen Geheimdienst geführt.
Rado, Chef der Genfer Zentrale, am 22. Oktober 1941 in einem Funkspruch an das Geheimdienst-Hauptquartier in Moskau:
“Von Lemmer, Mitglied des Büros Ribbentrop … Ich nenne ihn in Zukunft Agnes.”
“Agnes” Lemmers Meldung lautete:
“Panzer der Propagandakompanien stehen in Brjansk in Erwartung des Einzuges in Moskau, der auf den 14., dann auf den 20. Oktober vorgesehen war … Schwere Küsten- und Marineartillerie seit Tagen von Königsberg und Breslau nach Moskauer Front unterwegs.”
Weitere Lemmer-Sprüche funkte Rado beispielsweise am 13. August 1943:
“Agnes erhält hier (in der Schweiz) … Nachricht vom Außenamt über Panik und Möglichkeiten baldiger Militärdiktatur”.
Am 16. September 1943:
“Von Agnes. Zum ersten Mal geben Berliner amtliche Kreise Möglichkeit eines Zusammenbruchs an der Ostfront zu. Reserven sind erschöpft, Kommandeure beklagen sich allgemein über Stimmung der Truppen . .”
Lemmers Name kann auf keinem anderen Weg als über den Schweizer Nachrichtendienst in den roten Ring geraten sein. Lemmers Erwähnung dort wie hier ist eines von zahlreichen Indizien für eine Kollaboration zwischen Schweizer und sowjetischen Nachrichtenmännern.
Vieles deutet darauf hin, dass vor Allem der deutsche Emigrant Rößler die eidgenössischen Quellen auch für die “Roten Drei” fließen ließ.
Im selben Monat — Juli 1939 -, in dem Rößler seine Arbeit für den Schweizer Nachrichtendienst begonnen hatte, lernte er auch jenen Mann kennen, der später die Verbindung zwischen ihm und den “Roten Drei” herstellte und hielt.
Als Rößler mit einer chiffrierten Kleinanzeige in der “Neuen Zürcher Zeitung” einen “Mitarbeiter mit guter Allgemeinbildung” für seinen “Vita Nova”-Verlag suchte, meldete sich Dr. rer. pol. Christian Schneider, früher Redakteur der “Gladbecker Zeitung”, seit 1926 Übersetzer des Internationalen Arbeitsamtes (BIT) in Genf. Nachdem das BIT 1939 seinen Apparat verkleinert hatte, war Schneider arbeitslos geworden.
Am 17. Juli 1939 stellte er sich in Luzern bei Rößler vor und wurde engagiert. Sie waren einander sofort als Hitler-Gegner sympathisch.
Fortan schickte Rößler wöchentlich zwei oder drei Briefe nach Genf mit Arbeitsanweisungen für Schneider. Hin und wieder legte er kleine Zettel bei, auf denen er militärische Geheimnisse mitteilte.
In den ersten Kriegsmonaten schwoll die Zahl der Zettel so erheblich an, dass Frau Schneider ihren Mann beim Morgenkaffee nach der Quelle fragte:
“Wie kann der Rößler so etwas wissen?” Darauf der Ehemann: “Rößler hat, wie er mir anvertraute, in Deutschland sehr gute Informanten.”
Geheimnis-Mitträger Schneider behielt sein Wissen nicht für sich. Rößlers Zettel zeigte er — erstmalig im Mai 1941 — einer Bekannten, der polnischen Kommunistin Rachel Dübendorfer und deren Lebensgefährten Paul Böttcher, einem deutschen Altkommunisten, der 1923 der roten Regierung in Sachsen als Finanzminister angehört hatte. Rachel Dübendorf er, die Schneider im Internationalen Arbeitsamt kennengelernt hatte, und der Ex-Minister waren Agenten der “Roten Drei.
Im Sommer 1941 forderte Böttcher den Schneider auf, Rößler für die Zusammenarbeit mit den Sowjets zu gewinnen.
Schneiders Arbeitgeber war bereit. Mehrmals wöchentlich reiste Schneider (Deckname: “Taylor”) nach Luzern, holte Rößlers Informationen ab und übergab sie im Genfer Jardin Anglais oder anderen Treffpunkten der Dübendorfer (Deckname: “Sissy”), die sie dem sowjetischen Chefagenten Rado weiterreichte.
Vom Doppelspiel “Lucie” Rößlers — für die Schweizer und die sowjetischen Nachrichtenstränge — müssen auch hohe Schweizer ND-Offiziere gewusst haben. Jedenfalls gehörte NS-1-Chef Waibels Stellvertreter, Dr. Bernhard Mayr von Baldegg, zu dem engen Freundeskreis “Lucies”.
Dass dem Deutschen häufig Nachrichten zur Prüfung vorgelegt wurden, gab Mayr von Baldegg 1943 zu Protokoll, als die Schweizer Bundespolizei untersuchte, ob er wichtige eidgenössische Geheimdossiers den Sowjets zugespielt habe. Und Hausamann sagte unlängst über Rößlers Russen-Kontakte:
“Das habe ich gewusst. In gewissem Sinne habe ich das sogar gedeckt.”
Handfeste Beweise hierfür gibt es seit einem Vierteljahrhundert, publik wurden sie allerdings erst jetzt: Am 21. Oktober 1941 funkte “Dora” Rado an den “Direktor” in Moskau:
“Alle diese Informationen des Schweizer Generalstabs stammen von einem deutschen Offizier, der im deutschen OKW sitzt. Ich nenne in Zukunft die Nachrichtenabteilung des Schweizer Generalstabs Luise.”
Was aus dem Generalstab — “Luise” — gemeldet wurde, ging wahrscheinlich über Rößler-”Lucie” an die Russen.
Nachweislich stimmten gelegentlich die Meldungen in Details überein. So berichtete am 14. April 1943 Hausamann dem Schweizer Generalstab
“Auswirkung der totalen Mobilmachung im Mannschaftsbestand der deutschen Wehrmacht seit 1. Januar 1943: 1. Heer: Zuwachs an k. v. (kriegsverwendungsfähigen) Mannschaften durch Neueinberufung 286.000 Mann, vorerst zurückgestellt sind weitere rund 290.000 Mann, die April bis Juni einberufen werden sollen… Zuwachs durch Versetzung aus anderen Wehrmachtszweigen und durch Freiwilligenmeldung … über 95.000 Mann.”
Drei Tage später, am 17. April. 1943, funkte Rado die gleiche Meldung fast wörtlich nach Moskau:
“Auswirkung totaler Mobilmachung im Mannschaftsbestand der Wehrmacht seit 1. Januar 1943: Zugang an kriegsverwendungsfähigen Mannschaften durch Neueinberufung 286.000 Mann. Außerdem … (Wortgruppe verstümmelt) 290.000 Mann. Zugang durch Versetzung aus anderen Wehrmachtsteilen und Freiwilligenmeldungen über 95.000.”
So sicher es ist, dass Rößler für Schweizer und Russen gearbeitet hat, so ungewiss ist es, auf welchem Wege und von wem er seine Nachrichten bezogen hat. Keinesfalls bestand zwischen “Lucie” und seinen Gewährsleuten direkter Funkkontakt: Die Laufzeit der Meldungen betrug nie weniger als drei, meistens sogar vier bis sechs Tage. Möglicherweise erhielt Rößler seine Informationen über Fernsprechleitungen von denen die Informanten wussten, daß sie nicht abgehört wurden, oder über Kuriere auf dem Umweg über Mailand.
Für ausgezeichnete Verbindungen Rößlers bis in höchste deutsche Kommandostellen spricht, dass er von seinen russischen Auftraggebern häufig gelobt wurde. So funkte der “Direktor” am 22. Februar 1943 an Rado:
“Sprechen Sie Lucie unseren Dank für gute Arbeit aus. Letzte Information … war wichtig und wertvoll.”
Am 1. Juli 1943 lobte Moskau die Rößler-Quellen “Olga” (Allgemeines Heeresamt) und “Anna” (Auswärtiges Amt):
“Olgas und Annas Informationen sind in der Regel interessant und wertvoll, insbesondere über Neuformierung der Einheiten, Bombenschäden und über militärpolitische Fragen Deutschlands und seiner Verbündeten.”
Und Moskau hielt häufig sogar Rückfragen bei “Lucie” und ihren Quellen. Der Direktor fragte:
Am 9. November 1942:
“Wo befinden sich, die rückwärtigen Abwehrstellungen der Deutschen auf der Linie südwestlich Stalingrads und entlang des Dons?”
Am 7. Dezember 1942:
“Welche Verbände gehen jetzt aus dem Westen und aus Norwegen an die Ostfront und welche von der Ostfront nach Westen und dem Balkan?”
Am 16. Februar 1943:
“Sofort durch Lucie, Werther erfahren, ob Wjasma und Rschew evakuiert werden.”
Am 22. Februar 1943:
“Sofort (bei Werther) Pläne des OKW betreffend die Gruppe … unter Kdo Kluge feststellen.”
Am 9. April 1943: “Welche Operationen bereitet das OKW im Frühling und Sommer 1943 vor, wo, mit welchen Zielen und mit welchen Kräften, welche Armeen? … Welche neuen Einheiten werden in den kommenden Monaten aufgestellt?”
Gegen die Vermutung, Rößler habe ständig aus ersten Quellen geschöpft, spricht allerdings die Tatsache, dass seine Meldungen durchaus gravierende Fehler erhielten. Am 6. April 1943 beispielsweise gab “Werther”, Rößlers Mann im OKW, eine falsche Information, die Rado am 11. April nach Moskau funkte: Die 1. Gebirgsdivision stehe “in schwerem Abwehrkampf am unteren Kuban und vor der Straße Krymskaja-Noworossijak”. Tatsächlich war diese Division zu dieser Zeit in Serbien.
Am 2. Mai 1943 teilte Rößler mit, Feldmarschall Bock habe sein Hauptquartier bei Baranowitschi bezogen. In Wirklichkeit war Bock schon — zehn Monate zuvor — im Juli 1942 zurückgetreten. Nach einer am 13. Mai 1943 gefunkten “Werther”-Meldung war die “537. Grenadierdivision, bisher 532. Grenadierdivision nach der Ostfront unterwegs”. Aber weder die 537. noch die 532. Grenadierdivision hat es je gegeben, und die 532. Infanteriedivision war schon Ende 1939 aufgelöst worden. Ebensowenig gab es eine 80. Grenadierdivision, über die Rado am 4. Oktober 1943 nach Moskau funkte, sie sei gegenwärtig “nicht einsatzbereit”.
Rößlers Falschmeldungen fielen gelegentlich auch in Moskau auf und lösten hin und wieder Rückfragen aus. So funkte der “Direktor” am 5. Februar 1943 eine ganze Liste mit Rößler-Fehlern an Rado:
“Information von Werther über Zusammensetzung der Armeegruppen A und B ruft große Bedenken hervor. Wir erlauben Ihnen, an Luele folgende Bemerkungen mitzuteilen und von ihr eine dringliche Erklärung zu erlangen: Werther teilt mit, daß Gruppe A unter Kdo Küchlers 25 oder 24 Divisionen hat. Soweit uns bekannt ist, bat diese Gruppe aber nicht weniger als 41 Divisionen. Außerdem existieren Inf. Div. 33, 41, 117, 243, 543 und 19. mot. Div. überhaupt nicht in der deutschen Armee. Divisionen 83 und 267. Inf. mot. Div. und die 8. und 12, Panzerdivision befinden sich nicht in der Gruppe A, sondern, soweit es bekannt ist, auf anderen Fronten.”
Am nächsten Tag setzte die Zentrale in Moskau den zweiten Teil des Funkspruchs ab:
“Werther teilt mit, daß Gruppe B unter Kdo Kluge 33 Divisionen hat; uns ist es aber sicher bekannt, dass Gruppe B nicht weniger als 91 Divisionen hat. Auch sind wir der Meinung, dass von Werther angegebene Inf. Div. 37, 236, 701 und 70 niemals im Bestande der Wehrmacht waren. Uns ist auch bekannt, daß Inf. Div. 12, 61, 161, 162 nicht in der Gruppe B, sondern auf anderen Fronten sind.”
Vier Monate später mahnte Moskau sogar:
“Die gesamte Gruppe Lucie muss von Ihnen zur genaueren Ausführung unserer Aufträge angehalten werden.”
Und Anfang Oktober 1943 tickte der “Direktor” an “Dora” in Genf:
“Wir geben fortan zu den Informationen von Lucies Gruppe unsere Stellungnahme. Lucie und Taylor sind offenbar hochgebildete und ernste Menschen und werden unsere Kritik richtig verstehen.”
Der sowjetische Geheimdienst-Chef schloss mit einem Wunsch, der seine Hochschätzung für Rößler offenbarte:
“Vielleicht kann man die Arbeit mit der Gruppe auch nach dem Krieg fortsetzen.”
Dieser Funkspruch war einer der letzten, der an Rado und seine “Roten - *Der “Armeegruppe A” (Heeresgruppe Nord) unterstanden 60 Divisionen, der “Armeegruppe B” (Heeresgruppe Mitte) 80 Divisionen – Drei” ging. Im Spätherbst 1943 wurde das Netz von der Schweizer Bundespolizei, die im Gegensatz zum Schweizer Nachrichtendienst das Dogma der eidgenössischen Neutralität zu wahren suchte, ausgehoben. Die Sowjet-Agenten Foote, Dübendorfer, Böttcher, Schneider, Bolli und das Ehepaar Hamel wurden verhaftet; Rado tauchte unter.
Der Rote Obrist rettete sich über Frankreich nach Ägypten. Als ihn die Engländer 1945 an die Sowjets auslieferten, wurde ihm vorgeworfen, den Zusammenbruch der “Roten Drei” mitverschuldet zuhaben; er wurde nach Sibirien verbannt. Erst nach 1956 entließen Ihn die Russen in seine ungarische Heimat.
Sowjet-Agent Rößler blieb unbehelligt in der Schweiz. Er war nur noch für sein Gastland tätig.
Als Hitler-Deutschland 1945 kapitulierte, hatte Rößler sein Spionage-Ziel erreicht. Aber schon zwei Jahre später trat der Einzelkämpfer erneut gegen die Deutschen an.
Wieder nahm er Kontakt zum Osten auf, diesmal zur Tschechoslowakei. Zusammen mit seinem Freund Schnieper erforschte er für Prag militärische Geheimnisse in der Bundesrepublik. Ob diese Informationen auch an die Russen weitergegeben wurden — direkt von Rößler oder via Prag — ist nicht bekannt.
Einer der Rößler-Informanten war der 1961 vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe wegen Landesverrats zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilte frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Alfred Frenzel — was die Karlsruher Richter damals allerdings noch nicht wussten.
Eine Panne, wie sie sonst allenfalls Anfängern in der Branche unterläuft, hatte die Schweizer Bundespolizei auf Rößlers Spur gebracht: Ein von dem Meisterspion an Josef Rudolf, Düsseldorf, Linienstraße 106, adressiertes Paket ging versehentlich an den fingierten — Absender Heinrich Schwarz, Universitätsstraße, Zürich, zurück und gelangte auf diesem Wege an die Polizei. Sie ermittelte den wahren Absender.
Es enthielt ein mit Honig gefülltes Glas. in dem die Polizisten einen Film mit Angaben über Nato-Flugplätze und andere militärische Objekte in der Bundesrepublik fanden.
Am 5. November 1953 verurteilte das Bundesstrafgericht in Luzern Rößler zu zwölf, Schnieper zu neun Monaten Gefängnis. Gleichzeitig bestätigte es dem deutschen Emigranten jedoch: Rößler hat “der Schweiz … wesentliche Dienste erwiesen.
Rößler saß seine Strafe ab, kehrte dann nach Luzern zurück und starb 1958. Ein halbes Jahr vor seinem Tode hatte er dem 18jährigen Sohn seines Freundes Schnieper die Namen seiner deutschen Gewährsleute aus dem Zweiten Weltkrieg verraten. Bei einer Schach-Partie sagte er ihm:
“Wenn du ein reifer Mann bist und alle Lebenden tot sind, darfst du ihre Namen öffentlich nennen.”
Anderthalb Jahre später verunglückte Schnieper junior bei einem Autounfall tödlich.
Darüber, welches Geheimnis Rößler und Schnieper junior mit ins Grab genommen haben, wird jetzt so wild spekuliert wie nie zuvor. Die scheinbar präzisesten Angaben machten die Franzosen Accoce und Quet. Sie führten in ihrem Buch “Der Krieg wurde in der Schweiz gewonnen” Vornamen und Anfangsbuchstaben der Nachnamen von fünf deutschen Generalen und die Anfangsbuchstaben der Nachnamen von fünf Offizieren an, die Rößler mit Geheimnissen versorgt haben sollen. Bei den Generalen handle es sich um: Hellmuth S. Hermann F. Rudolf G., Fritz T. Georg T. Alle seien Bayern, Protestanten, ehemalige Kameraden Rößlers im Infanterieregiment 414 gewesen, und keiner habe zu den Verschwörern vom 20. Juli 1944 gehört.
“Welt”-Historiker Walter Görlitz war einer der ersten, der diese Pseudo-Enthüllung ernst nahm: “Mit Hellmuth S.”, so spekulierte er “mit allem Vorbehalt”, könnte “der Generalmajor Stieff gemeint sein”. Hinter “Rudolf G.” vermutete Görlitz den Wehrmachts-Transportchef General Rudolf Gercke, mit “Fritz T.” könne “nur auf Generalleutnant Thiele angespielt sein”, und bei “Georg T.” tippte der Ex-Gefreite Görlitz auf General Thomas, von 1939 bis 1942 Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes im Oberkommando der Wehrmacht. Nur über “Hermann F.” (hinter dem andere Spekulanten den Bruder des späteren Bundeswehr-Inspekteurs Friedrich Foertsch vermuten), wusste der Nach-Forscher nichts zu melden.
Aber schon die weiteren Angaben in den Generals-Steckbriefen der Franzosen treffen auf die Verdächtigten nicht zu: Keiner der vier Generale war Bayer, keiner war einst mit Rößler im Infanterieregiment 414 marschiert. Stieff, Thiele und Thomas waren überdies Männer des 20. Juli.
Über die französische Generals-Story urteilte der frühere Abwehrmann Hans-Bernd Gisevius:
“Kein Mensch glaubt ernsthaft an jene zehn kleinen Negerlein mit den roten Streifen an den Hosen, die aus dem Führerhauptquartier kabelten.”
Und der Zeithistoriker Wilhelm Ritter von Schramm meint:
“Die Namen sind aus den Fingern gesogen.”
Zwar hatte der Ritter in diesem Punkte recht — die Franzosen selbst traten den Rückzug an und gaben zu, Vornamen und Buchstaben seien frei erfunden. Doch wenig später verbreitete Schramm selbst eine Version, die ebenfalls unbewiesen ist. “Das Auge Moskaus” sei kein General, sondern ein Einzelgänger, “ein kleiner Mann”, ein “Rückversicherer”, gewesen.
Der Ritter spielte auf jenen Rittmeister Dr. Wilhelm Scheidt an, und die Deutsche Presse-Agentur nannte am 19. Oktober 1966 den Namen.
Dass Scheidt ein Agent der Russen war, ist weder zu beweisen noch auszuschließen. Dass aber dieser Rittmeister — wie von Schramm meint — sozusagen der einzige Verräter in den deutschen Stäben war, ist so gut wie ausgeschlossen.
Von seiner farbigen Vita her passt Scheidt, Jahrgang 1912, in jede Spionage-Story. Am 1. September 1939, dem ersten Kriegstag, machte er den ersten Gefangenen des Zweiten Weltkrieges. Nach kurzem Fronteinsatz in einer Kradschützen-Kompanie wurde er Anfang 1941 in die Kriegsgeschichtliche Abteilung des OKW beordert, die ab 17. Mai 1942 als Dienststelle des “Beauftragten des Führers für die militärische Geschichtsschreibung” unter dem späteren Generalmajor Scherff firmierte.
Wenn Scheidt Agent gewesen ist, dann hat er in dieser Abteilung ideale Möglichkeiten gehabt, sich Staatsgeheimnisse auf dem Dienstwege zu beschaffen. Alle militärischen Entscheidungen aus dem Führerhauptquartier und dem OKW gingen über seinen Schreibtisch. Mehrfach reiste Scheidt selbst ins Führerhauptquartier, und nachdem Scherff am 20. Juli 1944 bei dem Attentat auf Hitler verwundet worden war, vertrat Scheidt seinen Chef bei den Lagebesprechungen.
Scheidt, der 1933 der Reiter-SS beigetreten war und dem Hitler 1944 zum Geburtstag gratulierte, war zu dieser Zeit längst kein überzeugter Nationalsozialist mehr. Seine Verbindung zu Hitler-Gegnern ist nachgewiesen. Generaloberst Beck hielt ihn, wie aus dem Scheidt-Nachlass hervorgeht, der in diesem Jahr im Walter Verlag in Olten (Schweiz) veröffentlicht wird, für
“berufen, dermaleinst … zu bezeugen, daß unsere Tat kein Dolchstoß war”.
Auch nach dem Kriege blieb Scheidt, der als amerikanischer Kriegsgefangener mitgefangene Generale und Offiziere, darunter Generaloberst Guderian, verhörte, im Zwielicht. Er wurde 1948 Redakteur des aggressiven “Echos der Woche” und ging 1951 — mit Empfehlung von Franz-Josef Strauß — als Abteilungsleiter für Wehrfragen in das von der CDU beherrschte Bundespresseamt. 1952 endete Scheidts politische Karriere, als aufgedeckt wurde, dass er unter dem Pseudonym Jakob Wahrer in einer neutralistischen Zeitschrift Leitartikel gegen die Aufrüstung der Bundesrepublik geschrieben hatte. Anfang 1954 starb er in Bonn.
So bleibt ungewiss, welche Rolle Scheidt im Kriege gespielt hat.
Als Indiz Ihr seine Agententätigkeit wird — beispielsweise von der “Welt” — angeführt, dass er, wenn überhaupt, unter dem Decknamen “Werther” gearbeitet, und dass er einst in seiner Dissertation über Goethe und “Werthers Leiden” geschrieben hat. Und Tatsache ist, dass die roten Spione häufig naheliegende Decknamen hatten: Rado war “Dora”, Rößler in Luzern war “Lucie”, Schneider war “Taylor”.
Als Indiz gegen eine Agententätigkeit Scheidts wertet es der Göttinger Historiker Percy E. Schramm, der von 1943 bis 1945 im Führerhauptquartier das Kriegstagebuch führte, dass Scheidt seine Materialien viel zu spät erhalten habe. Schramm:
“Wenn Scheidt die Sachen auf den Tisch bekam, waren sie längst Geschichte. Dann hätte er sie getrost den Russen in Leder gebunden schenken können.”
Dass irgendwann aus Moskau bekanntgegeben wird, wer die Informationen an “Lucie” Rößler geliefert hat, ist kaum anzunehmen. Rößler weigerte sich im Juni 1941 sogar gegenüber den Russen, seine Quellen aufzudecken.
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Quelle: Der Spiegel, Ausgabe 4/1967 vom 16.01.1967
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